19 Jahre lückenlose Arbeitswelt – und plötzlich arbeitslos

19 Jahre lückenloses Wirken in der Arbeitswelt — und plötzlich arbeitslos. Wie reagiert man da? Panik? Trauer? Schockstarre? Im Gegenteil! Heute kann ich ganz klar sagen in so einer Phase sind Freude und Offenheit angesagt.

Dieser Artikel soll ein Appel sein den Mut zu haben, das zu suchen und dem nachzugehen, was man „wirklich, wirklich machen will“.

In der IT-Branche ist es nicht ungewöhnlich, dass Vieles sich schneller dreht als es in anderen Branchen der Fall ist. Wenn du in einem Startup arbeitest, kann es sein, dass du von einer anderen Firma übernommen, oder wegen finanziellen Engpässen entlassen wirst. Wenn du in einem Mittelständischen Unternehmen bist, kann es passieren, dass ein wichtiger Kunde plötzlich wegbricht und du auch dadurch das Unternehmen verlassen musst. Und bei Großkonzernen passiert es manchmal durch wiederkehrende, und teilweise ungeordnete Umstrukturierungen, dass die innere Kündigung plötzlich real wird.

Das ist alles normal und es gehört zum Geschäftsleben dazu. Ich habe schon viele der oben genannten Szenarien in meinem Berufsleben gesehen oder war auch manchmal direkt betroffen. Und jedes Mal stand ich vor der Entscheidung: Festhalten oder Loslassen?

Vor ca. 9 Monaten wurde ich allerdings zum ersten Mal innerhalb von zwei Wochen entlassen. Es war eine neue Situation für mich. Davor hatte ich 19 Jahre lückenlose Arbeitswelt hinter mir. Diese pausenlose Arbeitsmotivation war unter anderem auch in der Notwendigkeit begründet arbeiten zu müssen, denn hier in Deutschland als Ausländer ohne Arbeit bzw. Geld zu leben, hätte unter Umständen bedeuten können mein Studenten- bzw. Arbeitsvisum zu verlieren und damit auch die Genehmigung in Deutschland bleiben zu dürfen.

Es wurde kein Alt-Text für dieses Bild angegeben.

Auf einmal stand ich nun da, mit einer Kündigung in der Hand und zwei Türen vor mir:

  • die Erste zeigte den Abgrund der Arbeitslosigkeit: die Angst wie ich nun meine 5-köpfige Familie ernähren sollte, was aus meiner Lebensidentifikation, nämlich meinem Beruf, werden könnte und wie ich so schnell wie möglich aus der Situation herauskommen würde. Überleben im System. Koste es, was es wolle.
  • die Zweite zeigte den Weg der Erkenntnis, der Freiheit: Ohne Planken links und rechts, ohne konkretes Ziel, nur eine verschwommene, neblige Landschaft, die befreiend und einladend wirkte. Dazu auch noch ein gutes finanzielles Polster namens „Arbeitslosengeld I“.

Ich entschied mich für die zweite Tür. Das erforderte Mut, Kraft und den Willen die altbekannten Muster und Denkweisen abzulegen. Es ging um die Erkenntnis wahrzunehmen, dass das Leben mehr ist, als das, was ich bisher erreicht hatte und die bewusste Auseinandersetzung mit der gewonnenen Freiheit.

Das erforderte Mut, Kraft und den Willen die altbekannten Muster und Denkweisen abzulegen.

Ich muss dazu sagen, dass in dem Land, wo meine Wurzeln liegen, die Arbeitslosigkeit in der Regel tatsächlich keine 2 Türen anbietet. Heute bist du Arbeitnehmer, morgen Taxifahrer oder Schwarzarbeiter, um zu überleben. Und ich muss auch erwähnen, dass ich das Glück habe gut gebildet zu sein, einen interessanten Werdegang zu haben und dass ich das Gefühl hatte, im schlimmsten Fall zu jeder Zeit „irgendeine Arbeit“ annehmen zu können.

Nun wird mein Weg der Erkenntnis und Freiheit vorerst zu einem Ende kommen, denn ich werde wieder in die Berufswelt einsteigen. Gelernt habe ich aber in dieser Zeit unglaublich viel.

Erkenntnis Nummer 1: Diese Zeit ist doch schwerer als ich am Anfang dachte.

Ich habe mir einiges für die Zeit meiner Arbeitslosigkeit vorgenommen und das habe ich verfolgt. Ich hatte mich gefreut, endlich all die Dinge, die ich gerne machen wollte, die ich in letzter Zeit vernachlässigt hatte, zu tun und diese nachzuholen. Auch für die Dinge, die sich eventuell verrückt anhören, sollte nun Zeit und Raum sein. Und dann wurde ich mit der Realität konfrontiert als Familienvater jetzt zuständig für den Haushalt zu sein und damit umzugehen, dass alle um mich herum sich entwickelten, nur ich nicht mehr. Jahrelange Identifikation über die Arbeit, jahrelange „Pause“ von der Familie während meiner Anwesenheit im Büro. Nun stand ich 24 Stunden 7 Tage die Woche zur Verfügung. Es hat sehr lange gedauert bis ich für mich einen Weg fand damit umzugehen. Tiefe, depressive Phasen gehörten dazu, in denen ich schließlich gelernt habe, wieder auf mich und auf meine Bedürfnisse zu hören und auf das, was mir guttut und das dann auch zu tun.

Nun stand ich 24 Stunden 7 Tage die Woche zur Verfügung.

Die übliche Routine half mir dabei: Früh aufstehen, duschen, Kaffee machen, frühstücken, mich anziehen als ob man in die Arbeit gehen würde, in den Tag starten und das Beste daraus machen. Und jeden Tag reflektieren und mich fragen:

Habe ich heute genug für mich getan?

Erkenntnis Nummer 2: Frauen und Mütter brauchen mehr Freiheit und Unterstützung

Ich sehe jetzt die Arbeit der Mütter mit anderen Augen. Ich bewundere — noch mehr als früher — wie viel eine Mutter im Alltag bewältigen muss und wie gut Frauen und Mütter Familie, Partnerschaft und Freundschaften pflegen können, ohne sich zu beschweren oder zu meckern. Ich habe mit meiner Frau für die letzten Monate Rollen getauscht und ich bin ihr dankbar für diese Erkenntnis. Ich werde mehr denn je Frauen unterstützen, sei es im Beruf, privat, über die gemeinnützigen Projekte meines Vereins oder anderswo. Wir Männer müssen mehr für die Frauen und die Stärkung der Frauen in unserer Gesellschaft tun, finde ich.

Wir Männer müssen mehr für die Frauen und die Stärkung der Frauen in unserer Gesellschaft tun, finde ich.

Erkenntnis Nummer 3: Sei offen und suche das, was du „wirklich, wirklich“ machen willst

Ich entschied mich bewusst die zweite Tür zu nehmen. Das bedeutete, ich wollte wissen, wer ich bin, was mich ausmacht und diese Zeit nutzen um mich neu zu erfinden und mir all diese wichtigen Fragen über Identität, Identifikation und Berufung neu zu stellen. Ein Einzelcoaching mit Petra Kuch, finanziert durch die Agentur für Arbeit, stellte mich vor die Herausforderung mich genau zu hinterfragen und nochmal ganz neu herauszufinden, was kann ich wirklich gut, was biete ich an und was können andere von mir erwarten. Ich lernte dadurch mich selbst mehr zu lieben, mich mehr wertzuschätzen und mich in Vorstellungsgesprächen besser zu präsentieren.

Der kontinuierliche persönliche und virtuelle Austausch mit Menschen, mein offener Umgang mit meinem „Zustand“, mein Mut mit anderen über meine Situation, meine Zweifel und meine Wünsche zu reden, half mir immer wieder über Fremd- und Selbst-Wahrnehmung zu reflektieren und neue Wege zu denken.

Hinzu kamen die Besuche von Messen, Kongressen und Treffen — sicherlich auf Kosten meiner Finanzen und Dispozinsen, doch die waren es mir wert — die mir halfen im Austausch mit anderen zu realisieren, was ich tatsächlich wirklich, wirklich machen will im Leben. Hier hatte ich einen „Magic Moment“ bei dem Vortrag von Gabriel Rath. Da konnte ich endlich die losen Punkte meiner Geschichte verbinden (aus dem berühmten Zitat von Steve Jobs zu connecting the dots) und mein persönliches Puzzle zusammenfügen.

Was ich wirklich, wirklich machen will ist: Die Verantwortung für meine Familie wahrnehmen, dem Vereinsleben der Diasporaorganisationen in Deutschland mehr Sichtbarkeit geben und die moderne Zusammenarbeit in meinem Beruf vorantreiben.

Die Verantwortung für meine Familie wahrnehmen, dem Vereinsleben der Diasporaorganisationen in Deutschland mehr Sichtbarkeit geben und die moderne Zusammenarbeit in meinem Beruf vorantreiben.

Erkenntnis Nummer 3: Entscheide dich nicht für das erste, sondern für das beste Angebot

Ich habe mich über 50 Mal beworben, über 10 Bewerbungsgespräche geführt und einige konkrete Jobangebote bekommen. Alle Angebote bis auf eines habe ich abgelehnt, weil sie mir nicht 100% zusagten. Ich entschied mich bewusst nicht mehr mit einem „halben JA“ ein Angebot anzunehmen, ich wollte ein „ganzes JA“ hinter meiner Entscheidung spüren. Das ist mir schließlich geglückt. Natürlich weiß ich nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich das nicht so deutlich gespürt hätte oder wenn das Arbeitslosengeld I erschöpft gewesen wäre. Ich bin dennoch überzeugt, dass die Not erfinderisch macht. Ich denke, dass sich selbst in so einer Phase Möglichkeiten ergeben hätten.

Ich wollte ein „ganzes JA“ hinter meiner Entscheidung spüren.

Mein Fazit

“Es gibt zwei Dinge im Leben, die man wirklich tun muss: Steuern zahlen und sterben. Über alles andere kannst du selbst entscheiden.”

Ich kenne die Zukunft nicht, also gestalte ich diese, so offen wie es mir möglich sein kann.

Es wurde kein Alt-Text für dieses Bild angegeben.

Wenn das Leben euch vor solch eine Situation stellt oder ihr die Möglichkeit habt einmal aus eurem System auszusteigen, wünsche ich euch, das einmal zu tun, um neu zu gucken was ihr wirklich, wirklich machen wollt. Nur so können wir authentisch und frei aus unserem Handeln und Tun heraus eine bessere Zukunft für uns und unsere Familien gestalten.

Hattet Ihr auch solche Erfahrungen? Seid Ihr schon mal aus dem System ausgestiegen? Ich freue mich auf Eure Kommentare!

1 thought on “19 Jahre lückenlose Arbeitswelt – und plötzlich arbeitslos

  1. Pingback: Rückblick eines unerwarteten Jahres – Rafael Sánchez Moreno

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.