„Lasst uns mehr Beteiligung erleben!“

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Eine Forderung der Diaspora Community

Die Herausforderung

Stellen wir uns vor ein Deutschland im Jahr 2030. Meine erstgeborene Tochter ist dann 21 Jahre alt und wird ihre 1. Bundestagwahl hinter sich haben. Ich bin zu dem Zeitpunkt 50 Jahre alt und werde in diesem Land bereits 30 Jahre Migrationsgeschichte hinter mir und vermutlich immer noch keine Wahlbeteiligung gehabt haben. 

Insgesamt 3 Legislaturperioden werden dieses Land zwischen heute und dem Jahr 2030 prägen. Diese Legislaturperioden haben die Chance, wie die andern zuvor auch, die Weichen zu stellen, um die Zukunft dieser Gesellschaft inklusiver und integrativer zu machen. 

Ich bin mit 20 Jahren aus Peru nach Deutschland gekommen und sehe mich als Teil einer Diaspora Community. Diese Community, so wie ich sie persönlich verstehe, basiert auf demokratischen Werten, denkt global und agiert lokal für eine bessere deutsche und globale Gesellschaft. Die Mitglieder dieser Community haben sich bewusst entschieden hier zu leben, die deutsche Gesellschaft nachhaltig mit dem eigenen Beitrag zu prägen und zu bereichern mit all dem (historischen) Background, der aus anderen Kulturen mitgenommen wurde. 

Wie kann es uns, wie kann es der Politik gelingen eine zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten, in einer so komplexen Welt, wie der jetzigen? 

Die Zukunftsfähigkeit der deutschen Gesellschaft ist nicht isoliert zu betrachten und besteht in meinen Augen in direkter Abhängigkeit mit der Zukunftsfähigkeit einer globalisierten Welt. „Wir leben in Zeiten fundamentaler Umbrüche“ In der Welt, wie sie jetzt ist, können wir uns nicht mehr verschließen, abschotten oder über andere Länder hinweg Entscheidungen treffen. Aktuelle Krisen läuten eine neue Ära des Wandels ein.  

Wandel kann aber auch durch politischen Druck erfolgen. Deutschland ist nicht nur das Land der Dichter und Denker, sondern auch ein Land der vielen Kulturen, denn mindestens 20 Millionen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund leben in Deutschland, stellen somit eine wichtige Schicht der Gesellschaft dar und können daher nicht (mehr) als Minderheit betrachtet werden. 

Die aktuelle Zeit zu verstehen, fällt schwer. Sowohl die liberalsten und demokratischsten Länder der Welt als auch die Länder, die durch Populisten oder durch Autokraten regiert werden, zeigen ihre Schwächen. Dazu nur 3 Beispiele: 

  1. wenn ein einziger Mensch in der Lage ist für 44 Milliarden Dollar ein Unternehmen zu übernehmen, obwohl er das „Geld“ anders hätte investieren können,  
  1. oder wenn über 40% eines Landes, mitten im Krieg zwischen Ukraine und Russland, in einer Stichwahl seine Stimme für eine rechtspopulistische Partei gibt, 

da bekomme ich ein seltsames Gefühl (und etwas Wut) über unsere demokratische Gesellschaft und unsere Werte;  

  1. genauso bekomme ich ein seltsames Gefühl (und etwas Angst), wenn ich sehe, wie pseudo Demokratien oder Einparteiensysteme gegen die Meinungsfreiheit und den Pluralismus kämpfen oder sich stark machen gegen Minderheiten. 

Deutschland, das ich gerne als meine „neue Heimat“ benenne, muss sich weiter transformieren. Durch Krisen und durch politische Entscheidungen entstehen transformative Prozesse, die den Begriff „Heimat“ für viele neu prägen können. 

Konstruktion durch (strukturelle und mentale) Dekonstruktion  

Welchen Spielraum haben wir denn als Individuen in dieser Komplexität? Was können wir konkret machen? Wie bekommen wir eine Dekolonialisierung unserer Denkmuster? Meine persönliche Antwort lautet:

Engagement (der Migrantenorganisationen) auf Augenhöhe mit der deutschen Gesellschaft und Politik

Viele Menschen engagieren sich in sogenannten migrantisch-diasporischen Organisationen und engagieren sich als Brückenbauer*innen und Wissensvermittler*innen. Dieses Engagement bringt einige Herausforderungen mit sich. 2 Haupt-Herausforderungen sind:  

  1. Das Engagement der Diaspora Organisationen in Deutschland ist nicht einfach 
  1. Es gibt nicht genügend Berücksichtigung der Diaspora Community in deutschen Gestaltungsprozessen. 

Engagement 

Das ehrenamtliche Engagement der Diaspora ist bereits seit vielen Jahren aktiv und breitet sich über mehrere Bereiche aus, angefangen mit der Stärkung von Netzwerken in Deutschland und vor allem auch der Integrationsarbeit hin zu der Realisierung von Projekten im Herkunftsland. Dabei trägt sie im erheblichen Maße zur Verbesserung der Lebensbedingungen im Herkunftsland und zur nachhaltigen Entwicklung bei. 

Die Diaspora Community: 

  • ist in der Regel in kleinen, selbstorganisierten und ehrenamtlichen Strukturen unterwegs, die themenübergreifend agieren und über eine hohe Expertise verfügen. Diese Flexibilität ermöglicht eine gezielte und unkomplizierte Wirkung beim Handeln. 
  • ist hauptsächlich ehrenamtlich aktiv neben Privatleben und Beruf. Teilweise engagiert sich die Community national und international in unterschiedlichen Zeitzonen in Projekten und gestaltet die Zusammenarbeit sowohl in Deutschland als auch im Ausland, und das Ganze auf ehrenamtlicher Basis. 
  • Besitzt ein Gedächtnis. Ob es die Nachwehen der Kolonialzeit sind oder aber die generationenübergreifenden Denkstrukturen, dieses Bewusstsein prägt stets das Handeln dieser Community.  

Oft passiert es, dass Diaspora Organisationen einen strukturellen Nachteil erleben im Vergleich zu einheimischen deutschen Organisationen. Bürokratische Hürden und Förderinstrumente wurden ursprünglich nicht für eine solche Art von Organisation konzipiert, wie die der Diaspora. Diese Hürden scheinen oft unüberwindbar.  

Dazu kommt die bewusste oder unbewusste Instrumentalisierung solcher Communities, die eine nachhaltige Innovation und Veränderung behindert, anstatt diese zu fördern. 

Und nicht zuletzt erschweren das Fehlen von Interaktion und systematischem Austausch mit der Diaspora Organisationen die Arbeit. 

Durch fehlende Austauschformate gibt es ein zum Teil unentdecktes Potential der Diaspora Akteur*innen, dass es aufzudecken gilt, um Kräfte zu bündeln und gemeinsam wirken zu können, denn die Diaspora möchte eine aktive Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen haben. 

Wertschätzung 

Eine schnelle Suche im Internet nach dem Begriffen „Anzahl Migrantenorganisationen in Deutschland“ führt zu keinem aktuellen Ergebnis. Die Zahlen sind veraltet und nicht aktuell. Ungefähr 15.000 Migrantenorganisationen oder mehr sollen in Deutschland existieren.  

Andere Quellen sagen, „In Deutschland gibt es nach einer Schätzung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung rund 20.000 Organisationen von Menschen mit Migrationsgeschichte, die durch gemeinnützige Aktivitäten den kulturellen Zusammenhalt und Austausch stärken.“  

Wie soll eine Gruppe wahrgenommen werden, wenn man diese gar nicht genau kennt? Wie können Leitlinien, Förderungen oder Prozesse gestaltet werden, wenn die begünstigte Gruppe nicht Teil des Gestaltungs-Prozesses wird? 

Der Perspektivwechsel ist ein notwendiges Instrument, um den notwendigen Wandel voranzutreiben. Eine stärkere Einbeziehung der Diaspora in die nationale und internationale Entwicklungsarbeit kann zu einer beschleunigten nachhaltigen Transformation führen. Gerade die junge, agile und innovative Diaspora stellt eine große Bereicherung für das zivilgesellschaftliche Engagement dar und sollte ermutigt und eingeladen werden an Gestaltungsprozessen mitzuwirken. 

Ein Diaspora Summit als eine von vielen möglichen Antworten 

Damit die Transformation gelingen kann, ist es unabdingbar neue Wege zu gehen. Eine Möglichkeit für eine gelungene Transformation können reale Begegnungsorte sein, um den systematischen Austausch auf Augenhöhe mit deutschen Behörden und der Diaspora Community zu fördern. Damit alle Akteure gemeinsam eine globalere Gesellschaft für uns und unsere Kinder schaffen. 

So eine Erfahrung hat im Jahr 2022 stattgefunden. Bei dem Projekt “Diaspora Summit – Diaspora Beyond 2030” geht es darum, dass Bundesministerien, Parlamentsmitglieder und Vertreter*innen verschiedener Diaspora in Deutschland eine Allianz aufbauen, um auf den gesellschaftlichen Diskurs in Bezug auf die Agenda 2030 aus der Perspektive der Diaspora Einfluss zu nehmen. 

Quelle: Yasemine Cordes. IG: @Sketchworks_de 

Ein Positionspapier dient als Basis in einem institutionsübergreifenden Reflektions- und Erneuerungsprozess, um die Zusammenarbeit zwischen der Diaspora und staatlichen Einrichtungen, insbesondere dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), dem Innenministerium (BMI), dem Auswärtigen Amt (AA) und der Integrationsbeauftragten zu intensivieren.  

In Zukunft werden weitere Begegnungsorte benötigt. Wir benötigen die Offenheit diverser zu werden und der bewusste Wille für die Auseinandersetzung mit der Diaspora Community, um die Bedürfnisse zu erkennen, die für eine gerechtere und inklusivere Welt münden kann. 

Diaspora Beyond 2030 – Meine Utopie 

Im Jahr 2029 begleite ich meine Tochter zu unserer 1. Bundestagwahl zusammen. Ich besitze seit einigen Monaten sowohl die deutsche als auch die peruanische Staatsbürgerschaft. Auf dem Weg dorthin erzähle ich ihr alles, was in den letzten 2 Legislaturperioden im Bereich Diaspora Integration passiert ist. 

Die Bundesregierung hat nämlich in den letzten Jahren schrittweise in den Ländern den Partizipationsrat eingeführt. Dank einer Migrant*innen Quote von 30% konnte ich mich dort bewerben und einen Platz bekommen. Nun arbeite ich seit einigen Jahren zu 50% als Informatiker und zu 50% engagiere ich mich in Baden-Württemberg innerhalb des Partizipationsrates. Dieser Rat ist fester Bestandteil bei Konsultationsprozessen auf Länder- und Bundesebene, ich bin dort als Teil der Diaspora Community. 

Ich erzähle dabei meiner Tochter meinen ersten Gedanken zur Vorbereitung der 20. Jubiläumsfeier von Latinka e.V., dem Verein, den ich 2011 gegründet hatte. Wir organisieren aktuell das jährliche Treffen von lateinamerikanischen und deutschen Engagierten, eine echte bi-direktionale Austausch-Plattform; wir führen nämlich gemeinsam mit anderen lateinamerikanischen Diaspora Organisationen Projekte in Deutschland und in unseren Ursprungsländern durch. Die finanzielle Unterstützung bekommen wir durch einen von der Bundesregierung etablierten „Think-Do-Tank“, um die Selbstverwaltung der Diaspora zu empowern. Indem Abläufe, Verwaltung und Förderprogramm von der Diaspora für die Diaspora verwaltet wird, gehören organisatorischen Hürden der Vergangenheit an. In einem regelmäßigen Austausch-Termin erinnern wir uns an die einstmals schwierige Zeit mit erschwerten bürokratischen Abläufen. 

Es ist das Jahr 2029. Wir haben den Krieg in Europa hinter uns, wir haben unsere wertebasierte Transformation nach vorne gebracht und die strukturelle Diskriminierung in Deutschland etwas verbessert, der Weg bleibt lang und schwer. Die Diaspora hat dennoch mehr Repräsentanz im Landtag und im Bundestag, neue Vorbilder entstehen.  

Ich muss meine 1. Stimmzettel abgeben, bin nervös, habe aber ein Lächeln im Gesicht, denn “der Weg entsteht beim Gehen”

Rafael Sánchez-Moreno 

Positionspapier als Diskussionsgrundlage für den Diaspora Summit: „Diaspora 2030 and Beyond“ 2022 

Positionspapier – Diaspora Summit 2022

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